Vor kurzem veröffentlichte die OECD einen Bericht über die Karrierewünsche von Jugendlichen. In der diesem Bericht beiliegenden Pressemitteilung heißt es, dass die traditionellen Berufsbilder des 20. und 19. Jahrhunderts die Visionen junger Menschen wie vor 20 Jahren, vor der Ära der sozialen Medien und künstlicher Intelligenz, prägen. Darüber hinaus warnt sie davor, dass Jugendliche sich für Berufe mit negativen Zukunftsaussichten zu interessieren scheinen während sie neue Berufsbilder, die durch die Digitalisierung entstehen, ignorieren oder nicht wahrnehmen. Die meisten Medien gaben diese Informationen unkritisch weiter und zeichnen so ein eher enttäuschendes Bild der Zukunftswünsche der jungen Generationen.
Eine solche Interpretation der Umfrageergebnisse ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens sind unter den 5 am häufigsten genannten Berufen die folgenden: Ärzte, Lehrende, Business Manager, Juristen, Krankenpflege- und Hebammenberufe, Ingenieure, Spezialisten der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), Sportberufe. Die Prioritätsliste der männlichen Teilnehmenden lautet wie folgt: (1) Ingenieur, (2) Business Manager, (3) Arzt, (4) IKT-Spezialist und (5) Sportler, während die weiblichen Teilnehmenden wählen: (1) Ärztin, (2) Lehrerin, (3) Business Manager, (4) Rechtsanwältin und (5) Krankenschwester und Hebamme. Ich frage mich, wie die allgemeine Schlussfolgerung sein kann, dass junge Menschen Berufe aus der Vergangenheit bevorzugen, wenn es genau die Berufe in der Medizin, im Ingenieurwesen und in der IKT sind, wo Fachkräftemangel herrscht. Immerhin, wird Deutschland als ein Land genannt, in dem die Auswahl der Jugendlichen die Anforderungen des Arbeitsmarktes besser widerspiegelt.
Zweitens: auch wenn bestimmte Berufe von der Automatisierung bedroht sein können, liegen diese Erkenntnisse meist auf dem Niveau von Projektionen, und es gibt Meinungsverschiedenheiten über die Intensität der Automatisierung. In diesem OECD-Bericht werden beispielsweise die Arbeitsplätze von Angestellten im Banken-, Versicherungs- und Finanzsektor als solche aufgeführt. Es lässt sich schwer daraus schließen, dass die Wunschberufe der Jugendlichen auch zu diesen Berufen gehören. Man müsste einen Teil der Arbeitsaufgaben betrachten, die innerhalb eines bestimmten Berufes von der Automatisierung bedroht sein könnten, oder man müsste sich die detailliertere Liste der Berufe anschauen, die dann für den Bericht zusammengefasst wurde (im Bericht heißt es z.B., dass die Interessen in „Fachmedizin“ und „Allgemeinmedizin“ unter dem Beruf „Arzt“ zusammengefasst wurden).
Ein wichtiger Aspekt des Berichts ist, dass er die richtigen Fragen stellt:
- Wie werden die Arbeitsplätze der Zukunft aussehen;
- Welche Fähigkeiten und Kompetenzen werden benötigt, um in diesen Berufen erfolgreich zu sein; und
- Was können wir jetzt tun, um uns auf die Zukunft vorzubereiten?
Er weist auch auf die Tatsache hin, dass die Ungleichheit aufgrund des Geschlechts oder des sozialen Hintergrunds die Perspektiven junger Menschen einschränkt.
Genauso wie es verschiedene Vorhersagen über die Berufe und Jobs gibt, die von der Automatisierung bedroht sind, so gibt es auch verschiedene Quellen, die die für die Zukunft benötigten Fähigkeiten vorhersagen. Sie sind sich in einem einig, dass es notwendig sein wird, Fähigkeiten zu entwickeln, die ein ausreichendes Potenzial haben, um auf neue, unbekannte Bereiche anwendbar zu sein. Es ist jedoch unklar, wie viele dieser Fähigkeiten technisch sein sollten und wie viele in dem Bereich der sozialen und personellen Fähigkeiten liegen. Es beruhigt zu wissen, dass Menschenkenntnisse nicht an Bedeutung verlieren, und zwar nicht nur in den sozialen Berufen. Ganz im Gegenteil: Kreativität und Kollaboration werden in einer sich rasch digitalisierenden Welt eine notwendige menschliche Eigenschaft sein.
Die „harten“ technischen Fähigkeiten, die in den „alten“ Berufen erforderlich sein werden, sind schwerer zu erkennen. Hinzu kommt die Herausforderung völlig neuer Berufsprofile (z.B. im Bereich des Cloud Computing, der Daten- und Künstlichen Intelligenz usw.). Siehe z.B. den neuen Bericht des Weltwirtschaftsforums, der in Davos 2020 vorgestellt wurde.
Meines Erachtens sollte der OECD-Bericht nicht als „Warnung“ vor den dort zitierten Wunschberufen im Bereich Medizin, Bildung, Wirtschaft und Technik interpretiert werden, sondern als „Signal“ für die Veränderungen, die sie angesichts der Digitalisierung durchlaufen werden. Denn das ist es, worauf wir uns als Individuen, die Teil einer jeden Generation sind, und als Gesellschaften vorbereiten sollten. Wenn wir uns beispielsweise die medizinischen Berufe ansehen, die zu den Favoriten zu gehören scheinen, sind wir uns hoffentlich der enormen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte bewusst, die dieser Bereich seit den vergangenen Jahrhunderten gemacht hat.
Es mag zwar zutreffen, dass sich viele sich der zukünftigen Möglichkeiten nicht bewusst sind, ich bin jedoch erleichtert, dass „Influencer“ nicht einer der Top-Berufe geworden ist. Und wer kann sagen, dass die an der Studie teilnehmenden Jugendlichen nicht das obige Bild vor Augen hatten.
Photo by Jesper Aggergaard on Unsplash.
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