Industrie 4.0 ist ein gängiger Begriff zumindest in der Wirtschaft. Er steht für die „vierte industrielle Revolution“ und die folgt nach der Einführung von Elektronik und IT zur Automatisierung der Produktion (bezeichnet als die dritte industrielle Revolution).
Viele Informationen sind nur einen Klick entfernt und viele Quellen versuchen, den Begriff zu erklären. Und dennoch wissen nur 21% der Menschen in Deutschland was der Begriff Industrie 4.0 bedeutet, wie ich hier schon berichtet habe.
Deswegen habe ich zwei Experten kontaktiert, mit der Idee diese Sache auf den Grund zu gehen. Prof. Dr. Siegmar Lampe unterrichtet Automatisierungstechnik an der Hochschule Osnabrück und Prof. Dr. Dirk Rokossa leitet das Labor für Handhabungstechnik und Robotik. Sie sind beide Mitinitiatoren des Kompetenzzentrums Industrie 4.0 Osnabrück.
Stambolieva: Wie erklärt Ihr Industrie 4.0 den Studierenden?
Lampe: Industrie 4.0 ist Teil der Digitalisierung, die die ganze Gesellschaft betrifft. Ein Beispiel, welches mir immer wieder vor Augen hält, welche Veränderungen die Digitalisierung mit sich bringt, ist die Musik. Früher waren Langspielplatten (LP) das größte für mich! Hatte ich eine neue LP gekauft, dann ab nach Hause, Kopfhörer auf und ungestört Seite A und B genießen. Dabei konnte man die Liedtexte oft mitlesen, da diese auf der Plattenhülle abgedruckt waren. Dann kam die CD, eine kleine Schiebe mit einem sehr kleinen Booklet. Trotzdem war der Musikgenuss noch ähnlich. Anschließend schritt die Digitalisierung voran und brachte das Format MP3 hervor.
Von nun an gab es nichts mehr zum ‚anfassen‘. Musik war schnell und in Massen verfügbar. Heute wird Musik nur noch gestreamt – ist für mich zu einem unpersönlichen „Etwas“ geworden, was man nur noch nebenbei hört.
Als extrem vorteilhaft empfinde ich die Digitalisierung der Bücher. Ich kann nun zu jeder Zeit an jedem Ort mit meinem Tablet Bücher lesen, ohne schweres Gepäck dabei haben zu müssen! Jeder wird für sich also Vor- und Nachteile im Bereich der Digitalisierung finden.
Rokossa: Als Produktionstechniker habe ich natürlich eine produktionstechnische Sicht auf das Thema Industrie 4.0 (I4.0). Diese vermittle ich auch meinen Studierenden. Am Ende bedeutet dies, dass eine Produktion unter dem Aspekt I4.0 smarter (intelligenter) und effizienter wird.
So gesehen kann I4.0 in der Produktion in zwei ‚Strömungen‘ umgesetzt werden (die heute auch schon vorkommen): das Vollautomations-Szenario und das Mensch-Roboter-Kollaborations-Szenario:
- Das Vollautomations-Szenario: Der Automatisierungsgrad einer Produktion, oder eben auch Teilbereiche einer Produktion, wird massiv gesteigert. Maschinen werden weiter vernetzt und auch direkt mit weiteren Geschäftsprozessen (z.B. Bestellung von Kunden) verknüpft. Die Maschinen werden ‚intelligent‘, so dass sie selber ‚wissen‘, wie sie sich für neue Produkte einstellen müssen. Produktionsbereiche gehorchen den Mechanismen einer Selbststeuerung.
- Das Mensch-Roboter-Kollaborations-Szenario: In diesem Szenario werden Mensch und Roboter mit ihren jeweiligen Stärken zueinander geführt. Der Mensch übernimmt die nur schwierig automatisierbaren Tätigkeiten und der Roboter die Routinearbeiten und Tätigkeiten, die für den Menschen gefährlich oder nicht ergonomisch sind.
Stambolieva: Bleiben wir bei der Automatisierung. War das nicht schon der Fall bei der dritten industriellen Revolution? Da kamen auch Roboter zum Einsatz und die Produktion lief automatisiert. Was ist jetzt der Unterschied?
Lampe: Vielleicht sollen wir über eine Evolution sprechen.
In der Industrie 4.0 wird die Arbeit mit Information anders. Dank der günstig gewordenen Sensoren ist es möglich, die Maschinen besser ‚kennenzulernen‘ und daraus neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Ein Beispiel: Die Firma Kaeser baut Kompressoren für Druckluft. Früher hat die Firma Kaeser die Kompressoren an Ihre Kunden verkauft. Diese mussten sich dann oft selbst um Wartung und Reparatur kümmern, obwohl solch ein Kompressor nur Mittel zum Zweck ist, mit der eigentlichen Wertschöpfungskette des Unternehmens nicht viel gemein hat. Die Firma Kaeser kennt Ihre Kompressoren sehr genau, hat diese mit Sensoren ausgestattet und kann nun über das Internet den Status Ihrer Kompressoren zu jeder Zeit abrufen. Somit wurde die Geschäftsidee geboren, nicht mehr die Kompressoren zu verkaufen, sondern Druckluft! Die Kompressoren bleiben weiterhin im Besitz der Firma Kaeser, diese kümmert sich auch um Wartung und Reparatur. Aufgrund der Daten, die die Sensoren liefern, kann Kaeser eine vorausschauende Wartung betreiben. Die Kompressoren können also ‚repariert‘ werden, bevor sie tatsächlich ausfallen. Ein großer Vorteil für den Kunden! Er hat sich um die Reparatur und Wartung nicht zu kümmern, sondern bezahlt einfach nur Druckluft je nach Verbrauch!
Erst die Digitalisierung und die globale Vernetzung machen es möglich, diesem Kundenwunsch zu bedienen.
Rokossa: Eine erweiterte Automatisierung in der Industrie 4.0 kann sich dadurch bemerkbar machen, dass Kunden direkter das Produktionsgeschehen ihrer Produkte beeinflussen können. Heutzutage planen die Produktionsbereiche die Reihenfolge einer Auftragsbearbeitung. Zukünftig ist es denkbar, dass durch eine aktuelle Auftragsmenge – initiiert von einem oder mehreren Kunden – eine Selbststeuerung der Produktionsabläufe erfolgt. Entsprechend einem gewünschten Produktionsszenario (z.B. die Auslastung der Produktionsmaschinen zu erhöhen oder Wartungsarbeiten an einzelnen Maschinen zu ermöglichen) optimiert sich das Fertigungsgeschehen selber.
Kunden, Produkte und eben auch Produktionsabläufe werden in der Industrie 4.0 intensiver mehr miteinander verknüpft, als das früher der Fall war.
Wie auch oben am Beispiel der Firma Kaeser erklärt, ermöglichen erst Digitalisierung und globale Vernetzung dank dieses Szenario eine Selbststeuerung.
Lampe: Technisch ist verdammt viel möglich, herausfordernd sind die Fragen: Wem gehören die Unmengen an Daten, die die unzähligen Sensoren liefern? Wie ist es mit der Datensicherheit gestellt? Welche neuen Geschäftsmodelle (Beispiel Kaeser) lassen sich entwickeln?
Stambolieva: Was würdet Ihr Unternehmen für die Zeit nach der Corona-Krise raten?
Rokossa: Wissen aufbauen! Ein Mithören und daraus dann eine eigene Meinungsbildung. Die Einstellung im Sinne ‚I4.0 löst alle Probleme‘ oder ‚I4.0 macht alles nur schlechter‘ hilft nicht weiter. Die Entscheider in den Unternehmen müssen sich mehr mit der Thematik auseinandersetzen.
Lampe: Nicht nach Corona, sondern jetzt sich auf den Weg zu machen, sich jetzt mit der Thematik beschäftigen. Wir sehen ja bei uns an der Hochschule, welch gravierenden Einschnitt Corona in unseren Lehrbetrieb gebracht hat. Innerhalb kürzester Zeit waren wir mehr oder minder gezwungen von Präsenzbetrieb auf Online-Lehre umzustellen, unser ‚Geschäftsmodell‘ anzupassen.
Stambolieva: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Foto: Screenshot MS (oben links Prof. Dr. Dirk Rokossa, unten Prof. Dr. Siegmar Lampe)
Leave a Reply